Der Verstörer Von Konrad Paul Liessmann (Spectrum) 30.08.2003

 

Kein richtiges Leben im falschen. Zum 100. Geburtstag des Philosophen: über Theodor W. Adornos provozierend unzeitgemäße Aktualität.

In einem Interview im Herbst vergangenen Jahres erklärte der Philosoph Peter Sloterdijk, befragt nach der Bedeutung des 11. September 2001, er gehöre einer Gruppe von Menschen an, die mit dem 11. September seit je den Geburtstag von Theodor W. Adorno verbunden habe, und er sei der festen Überzeugung, dass die Assoziation des 11. September mit Adorno unter kulturgeschichtlichen Aspekten weiterhin die wichtigere gegenüber der Erinnerung an den Terroranschlag in New York bleibe. Und für manchen, der sich in diesen Tagen daranmacht, einen der Gedenkartikel zu Adornos 100. Geburtstag zu verfassen, mag der 11. September in der Tat zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder einen anderen Sinn bekommen, ein anderes Assoziationsfeld eröffnen als die nahezu zwangsläufige Zuweisung an die zum Einsturz gebrachten Wolkenkratzer - dass der von den USA unterstützte faschistische Putsch gegen die chilenische Demokratie im Jahre 1973 ebenfalls an einem 11. September stattgefunden hat, haben wir mittlerweile ja erfolgreich verdrängen können. Es geht nicht um die Zufälligkeit einer kalendarischen Koinzidenz. Denn Peter Sloterdijk verband diese mit einer These: dass das Denken des Philosophen, Soziologen und Ästhetikers Theodor W. Adorno ein kulturgeschichtlich bedeutsameres Ereignis darstelle als die Zerstörung des World Trade Center und deren politische und militärische Folgen. - Fürwahr, eine starke These, zumal sie in einer Zeit geäußert wird, in der Adorno und seine Philosophie nur mehr ein Fall für Philosophiehistoriker und Biografen zu sein scheinen. All das, was man auf Anhieb mit Adorno verbindet - neomarxistische Kapitalismuskritik und negative Dialektik, das vermeintliche Lyrikverbot nach Auschwitz und sein Faible für Atonalität und Zwölftonmusik, die Ranküne gegen die Kulturindustrie und die Angst vor der verwalteten Welt -, scheint nicht nur unzeitgemäß und verstaubt, sondern vom Gang der Weltgeschichte selbst widerlegt. Der globale Siegeszug des Kapitalismus, der Triumph des Konsumismus und der organisatorische und geistige Niedergang der linken Bewegungen haben auch subtile und unorthodoxe Denker wie Adorno, die nie Gefahr gelaufen waren, einem linken Dogmatismus zu huldigen, in den Strudel des Vergessens gerissen.

Und dennoch nagt die These Peter Sloterdijks an diesem Befund. Was, so ließe sich fragen, wenn der 11. September des Jahres 1903, Adorno Geburtstag, nicht nur für die Generation der unmittelbaren Adorno-Schüler, sondern gerade wegen der provozierenden Unzeitgemäßheit  Adornos auch für jene Zeitgenossen, die sich emphatisch dem hingeben, was Adorno den "Betrieb" genannt hat, ein unverzichtbarer, weil allemal provozierender Gedächtnisanker sein könnte?

Erinnern also. Die dazu notwendigen Eckdaten sind schnell referiert. Adorno wird als Sohn des Frankfurter Weinhändlers Oskar Wiesengrund und der Opernsängerin Maria Calvelli-Adorno geboren. Er gilt als frühreif und vor allem musikalisch hoch begabt, schon als Knabe liest er gemeinsam mit Siegfried Kracauer Kants "Kritik der reinen Vernunft", gleich nach Abschluss des Gymnasiums beginnt er eine publizistische Tätigkeit als Musikkritiker, und lange schwankt er, ob er Philosoph oder Musiker werden sollte. Er promoviert im Alter von 21 Jahren und geht nach Wien, um bei Alban Berg Komposition zu studieren. Nicht zuletzt aus dieser Zeit resultiert Adornos Emphase für die Musik der Zweiten Wiener Schule und seine Liebe zu Wien, eine Liebe, die diese Stadt übrigens nie erwidern wird. Adorno konzentriert sich schließlich doch auf die Philosophie und habilitiert sich 1931 mit einer Arbeit über Kierkegaard. In dieser Zeit hat er auch schon Kontakt zum Frankfurter Institut für Sozialforschung und dessen Direktor Max Horkheimer. Resultat dieser Beziehung ist nicht nur eine lebenslange Freundschaft, sondern auch ein theoretisches Konzept, durch das Adorno seine ästhetischen Interessen mit einem neomarxistischen, ideologie- und gesellschaftskritischen Ansatz verbinden wollte.

Nach der Machtergreifung Hitlers wird Adorno die Lehrbefugnis entzogen, er emigriert nach England, dann in die USA, wohin sich auch das Institut für Sozialforschung zurückgezogen hat. Der Aufenthalt in Amerika ist für Adorno zweifellos prägend. Der dort schon zu beobachtenden konsequenten Vermarktung der Kunst durch die von ihm so genannte Kulturindustrie steht er zutiefst erschrocken und misstrauisch gegenüber. Gemeinsam mit Max Horkheimer verfasst er die "Dialektik der Aufklärung", die sowohl vor dem Hintergrund des Faschismus als auch angesichts der Erfahrungen mit der amerikanischen Industriegesellschaft die These vertritt, dass Aufklärung auch wieder in Barbarei und Unfreiheit umschlagen kann. Wohl erscheint dieses Buch unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, seine zeitweilig ungeheure Wirkung entfaltete es aber erst 20 Jahre später. In den USA entstehen aber auch die "Philosophie der neuen Musik", Adornos Versuch, Schönberg zum Vertreter des musikalischen Fortschritts und Igor Strawinsky zum Paradigma der ästhetischen Reaktion zu erklären, sowie die aphoristischen "Minima Moralia". Adorno kehrt 1949 nach Deutschland zurück und wird Professor am wiedererrichteten Institut für Sozialforschung in Frankfurt. 1966 erscheint dann sein philosophisches Hauptwerk, die "Negative Dialektik".

Adorno wurde neben Ernst Bloch und dem in den USA gebliebenen Herbert Marcuse zu einem der geistigen Brenn- und Bezugspunkte der Studentenbewegung der späten Sechzigerjahre, was allerdings nicht ganz ohne wechselseitiges Missverstehen geschehen konnte. Als die revoltierenden Studenten auch seine Vorlesungen sprengten, ließ er das Institut durch die Polizei räumen. Adorno starb, überraschend, im Sommer 1969 während eines Urlaubsaufenthaltes in der Schweiz an einem Herzinfarkt - ein Tod, dessen genaue Umstände übrigens noch immer nicht ganz geklärt sind. Sein kunstphilosophisches Hauptwerk, die "Ästhetische Theorie", konnte nur mehr posthum erscheinen, was ihrer Wirkmächtigkeit allerdings keinen Abbruch tat. - Wie wenige hat Adorno den Typus des Intellektuellen verkörpert, der einerseits Kritik üben kann und will, andererseits aber weiß, dass ihm die Kraft der Veränderung nicht gegeben ist - und solch eine Haltung verstört bis heute.

In den "Minima Moralia", denen Adorno den Untertitel "Reflexionen aus dem beschädigten Leben" gegeben hat, findet sich ein zentraler Absatz über den Intellektuellen, selbstironisch überschrieben mit "Hänschen klein". Darin heißt es: "Der Intellektuelle, und gar der philosophisch gerichtete, ist von der materiellen Praxis abgeschnitten: der Ekel vor ihr trieb ihn zur Befassung mit den so genannten geistigen Dingen. Aber die materielle Praxis ist nicht nur die Voraussetzung seiner eigenen Existenz, sondern liegt auf dem Grunde der Welt, mit deren Kritik seine Arbeit zusammenfällt. Weiß er nichts von der Basis, so zielt er ins Leere. Er steht vor der Wahl, sich zu informieren, oder dem Verhassten den Rücken zu kehren. Informiert er sich, so tut er sich Gewalt an, denkt gegen seine Impulse und ist obendrein in Gefahr, selber so gemein zu werden, wie das, womit er sich abgibt, denn die Ökonomie duldet keinen Spaß, und wer sie auch nur verstehen will, muss ökonomisch denken."

Hier wird ausgesprochen, was niemand hören wollte und will: dass in dem Ekel, der Abneigung von Intellektuellen der so genannten Praxis gegenüber eine Berechtigung steckt, die an sich schon Kritik an dieser Praxis enthält: "Distanz von Praxis ist allen anrüchig. Beargwöhnt wird, wer noch nicht fest zupacken, nicht die Hände sich schmutzig machen möchte, als wäre nicht die Abneigung dagegen legitim und erst durch Privileg entstellt." Worum es dabei geht: dass es gute Gründe dafür gibt, sich effizienzorientierter und jederzeit evaluierbarer Arbeit genauso entziehen zu wollen wie den so genannten Sachzwängen, die ökonomisches, technologisches und politisches Handeln unerbittlich durchziehen. Und dass sich schon Gewalt antut, wer sich informiert - dieser Satz, geschrieben lange vor Ausbruch der Informationsgesellschaft, hatte wahrlich prophetischen Charakter: denn informieren heißt immer auch, in eine Form gepresst werden. Man kann dies wissen, aber man kann sich dem nicht entziehen. Wer sich widerstandslos dem Getriebe anpasst, verliert seine intellektuelle kritische Kompetenz, wer auf den unmittelbaren Kontakt zur gesellschaftlichen und ökonomischen Praxis verzichtet, begibt sich in einen Elfenbeinturm: "Wie der Intellektuelle es macht, macht er es falsch."

Adornos Intellektualismus hat schon seine Studenten, die ganz auf die unmittelbare Veränderung der Gesellschaft fixiert waren, verstört und empört. Paradox an der Sache ist, dass der Praxisfetischismus der Linken im gegenwärtigen Effizienzdenken sein eigentümliches Pendant gefunden hat. An Stelle des gesellschaftlichen Nutzens, der einstens für das Denken gefordert wurde, ist nun der ökonomische getreten, dem alles sich unterzuordnen hat. Adornos Beharren auf eine praxisferne Intellektualität, auf die Autonomie des Denkens, steht so zu beiden Formen der Verzweckung des Geistes in Widerspruch. Adorno hat aus dieser Diskrepanz keinen Heroismus gemacht, sondern sie als unlösbare Antinomie des Denkens selbst in einem zweckrationalen Umfeld begriffen.

Den natürlich gegen ihn erhobenen Vorwurf, er sei ein Bewohner des Elfenbeinturms, hat Adorno dann auch, in seinem letzten Gespräch mit dem "Spiegel", Anfang Mai 1969, nicht zurückgewiesen: "Ich habe vor dem Ausdruck Elfenbeinturm gar keine Angst. Ich glaube, dass eine Theorie viel eher fähig ist, kraft ihrer eigenen Objektivität praktisch zu wirken, als wenn sie sich von vornherein der Praxis unterwirft."

Eine seiner letzten Arbeiten, ein im Februar 1969 gehaltener Vortrag "Über Resignation", geriet Adorno zu einer prinzipiellen Verteidigung von Denken an sich, die vielleicht auch gerade deshalb wieder ins Gedächtnis gerufen werden sollte, weil ein Denken, das sich nicht unmittelbar verwerten lässt, zur Zeit nicht gerade hoch im Kurs steht: "Eigentlich ist Denken schon vor allem besonderen Inhalt die Kraft zum Widerstand und nur mühsam ihr entfremdet worden. Was einmal gedacht ward, kann unterdrückt, vergessen werden, verwehen. Aber es lässt sich nicht ausreden, dass etwas davon überlebt. Denn Denken hat das Moment des Allgemeinen. Wer denkt, ist in aller Kritik nicht wütend. Denken hat die Wut sublimiert. Weil der Denkende es sich nicht antun muss, will er es auch den anderen nicht antun. Das Glück, das im Auge des Denkenden aufgeht, ist das Glück der Menschheit. Die universale Unterdrückungstendenz geht gegen den Gedanken als solchen. Glück ist er, noch wo er das Unglück bestimmt: indem er es ausspricht. Damit allein reicht Glück ins universale Unglück hinein. Wer es sich nicht verkümmern lässt, der hat nicht resigniert." Denken, Philosophie als Aussprechen des Unglücks und damit als Moment des Glücks - natürlich zeigt sich hier noch einmal, wenn auch in gewandelter Gestalt, das aristotelische Motiv des bíos theoretikós. Es ist aber ein negatives Glück: Adorno wollte sich über den Zustand der Gesellschaft keine Illusionen machen.

Der Zustand der Gesellschaft - seit seinen Studien zur Kulturindustrie aus der "Dialektik der Aufklärung" war dieser für Adorno durch die permanente Erzeugung falschen Bewusstseins charakterisiert. Die Ökonomisierung von Kunst und Wissenschaft demokratisiert diese nicht nur, sondern kappt damit auch deren kritisches Potenzial: "Geistige Gebilde kulturindustriellen Stils sind nicht länger auch Waren, sondern sind es durch und durch." Was hinter der Erzeugung kulturindustrieller Produkte sich verbirgt, war für Adorno klar: "Der Gesamteffekt der Kulturindustrie ist der einer Antiaufklärung; in ihr wird Aufklärung, die fortschreitende technische Naturbeherrschung, zum Massenbetrug, zum Mittel der Fesselung des Bewusstseins. Sie verhindert die Bildung autonomer, selbständiger, bewusst urteilender und sich entscheidender Individuen."

Die Kulturindustrie erzeugt sich so selbst jene unmündigen Massen, die ihre Produkte kritiklos konsumieren. Allerdings, diese Massen stellen ihrerseits wieder die Voraussetzung für eine funktionierende Kulturindustrie dar: "Werden die Massen zu Unrecht von oben her als Massen geschmäht, so ist es nicht zum Letzten die Kulturindustrie, die sie zu den Massen macht, die sie dann verachtet, und sie an der Emanzipation verhindert, zu der die Menschen selbst so reif wären, wie die produktiven Kräfte des Zeitalters sie erlaubten."

Durch nichts hat Adorno seinen kritischen Ansatz gegenüber der Welt der Werbung, des Fernsehens, des Kinos, der Welt der Unterhaltungsindustrie und neuen Medien vielleicht besser charakterisiert als durch folgende Bemerkung: "Der Satz, die Welt wolle betrogen sein, ist wahrer geworden, als wohl je damit gemeint war." Denn das für Adorno so Erschreckende am Verhalten der Kultur- und Unterhaltungskonsumenten ist nicht so sehr, dass sie betrogen werden, ohne es zu wissen, sondern dass sie "einen Betrug wollen, den sie selbst durchschauen". Die Menschen "sperren krampfhaft die Augen zu und bejahen in einer Art Selbstverachtung, was ihnen widerfährt, und wovon sie wissen, warum es fabriziert wird". Heute würde man vielleicht sagen, dass wir diese Form der Selbstverachtung mit ziemlich weit aufgerissenen Augen, durchaus lustvoll praktizieren. - Retrospektiv hängt die Einschätzung der Leistung Adornos natürlich wesentlich davon ob, ob man seiner Form von Gesellschaftskritik überhaupt noch etwas abgewinnen kann. Dass sich in der späten bürgerlichen Welt ein allgemeiner Verblendungszusammenhang aus Medien, Kommerz und Propaganda wie ein Schleier über das Bewusstsein der Menschen gelegt hat, der es tendenziell unmöglich macht, einen Blick auf die Wahrheit zu erhaschen, gehörte zu den sinistren Einsichten Adornos, die - übrigens ganz gegen diese These - eine Generation von unerbittlichen Systemdurchschauern produziert hatten, heute aber gerade noch ein müdes Lächeln erzeugen. Adornos Kritik der Kulturindustrie erscheint ja deshalb so vertrackt, weil ihr in einem gewissen Sinn gar nicht widersprochen werden kann, erscheint doch das, was Adorno davon wahrnehmen konnte, wie ein sanftes Vorspiel zu den entfalteten Formen der weltweiten Unterhaltungsindustrie und zur Kommerzialisierung des Geistes heute.

Aber diese Diagnose ruft einfach kein Unbehagen mehr hervor. War für Adorno das affirmative Bewusstsein, das sich mit dem Bestehenden einverstanden erklärt, der intellektuelle Sündenfall schlechthin, so ist daraus längst die neue Tugend geworden. Kein Intellektueller von Rang, der seinen guten Ruf nicht verlieren möchte, verzichtet darauf, sich von Zeit zu Zeit zu den Produkten der Massenkultur zu bekennen, und wer heute noch behaupten wollte, dass Schönberg oder einer seiner Nachfolger ungleich wichtiger, weil ästhetisch fortgeschrittener und philosophisch wahrer sei als, sagen wir, das jüngste Produkt einer ethnisch korrekten und global vertriebenen World-Music, hätte sich damit auch schon in jeder Hinsicht disqualifiziert. Und nach den ästhetischen Askesen, die Adorno sich und seinen Jüngern auferlegt hatte, konnten die postmodernen Achtzigerjahre ja auch tatsächlich als eine Befreiung aufgefasst werden, die es einem erlaubte, ohne schlechtes Gewissen all den Schund zu genießen, den die Unterhaltungsmedien allzeit bereitstellen.

Die gerade in diesem Zusammenhang gerade von diesen Medien aber auch immer wieder angezettelten Debatten über ästhetische Kanons, über jenes Maß an Bildung, das unverzichtbar ist, und über die wahren Werte deuten an, dass der Sumpf des Gleich-Gültigen vielleicht nur halb so lustig ist wie versprochen. Gegen den dann wieder hörbaren Ruf nach dem Positiven bietet Adornos Absage an jede Form der Positivität allerdings allemal ein brauchbares Antidoton.

Angesichts eines sich jung und global gebärdenden digitalen Kapitalismus mutet auch der Begriff der "verwalteten Welt", mit dem Adorno gerne die Lebensumstände im entwickelten Kapitalismus beschrieb, relativ altbacken an in einer Welt, in der es nur so von Freiheiten aller Art wimmelt. Die Leistung, die sich dahinter verbirgt, die individuellen Denk- und Lebensweisen von unzähligen Menschen ohne Diktat weltweit marktkonform zu synchronisieren, konnte Adorno zwar nicht bewundern, aber immerhin schon diagnostizieren. Mit Vorliebe gebrauchte er dafür eine Nietzsche entlehnte Formel: "Kein Hirt und eine Herde."

Herrschaft ist ortlos geworden, im dynamischen Kapitalismus organisiert sich die Herde als Herde selbst. Dass der Philosoph sich als Einzelner der allgemeinen Uniformierung und Konformität des Bewusstseins gegenüber allerdings chancenlos gedünkt hätte, täuscht. Nicht, dass Adorno nicht gespürt hätte, dass das Tauschprinzip, nach dem die Gesellschaft funktioniert, die Individuen einander angleicht, um sie austauschbar zu machen, und so Individualität nicht ermöglicht, sondern immer auch gefährdet. Aber das denkende Subjekt blieb für ihn der Ort, von dem aus Widerstand als Kritik möglich schien. Dass diese Kritik nur negativ und destruktiv sein könne, nur ein Akt des Denkens sein könne, darauf hat Adorno allerdings beharrt.

Paradox genug: Zu Lebzeiten noch wurde ihm vorgeworfen, dass er die Perspektive der realen Überwindung des Kapitalismus aus seiner Philosophie verbannt habe. Heute, wo es schick geworden ist, bei jeder Gelegenheit zu sagen, dass es zum Kapitalismus keine Alternative gebe, scheint sogar das Beharren Adornos auf das Recht des Subjekts, gegen Bestehendes in aller Ohnmacht wenigstens theoretisch Einspruch zu erheben, und sei es nur, indem die Dinge beim Namen genannt werden, schon des Guten zu viel. Man muss ja keine Adorno-Renaissance beschwören - aber ohne ein Mindestmaß an Reflexion, Kritik und Negativität könnte auch das Leben in den globalen Netzen schneller veröden, als manchem lieb ist.

Adorno hatte in den "Minima Moralia" den viel zitierten (und auch von ihm gerne zitierten) Satz geschrieben: "Es gibt kein richtiges Leben im falschen." Gemeint war, dass es unter den allgemeinen Bedingungen des Verhängnisses, das Adorno in der modernen Gesellschaft sehen wollte, für den Einzelnen keine Möglichkeiten mehr gebe, richtig, das heißt nach Maßgabe seiner individuellen Entfaltungsmöglichkeiten, zu leben, und richtig, das heißt nach Maßgabe des Sittengesetzes, zu handeln. Schon wer ins Kino geht, so Adorno einmal, fügt sich ein in das Ganze, das das Falsche ist. Das Paradoxe daran ist vielleicht, dass, auch wenn diese Formel stimmen sollte, sie nicht mehr weiter als störend empfunden wird. Vielleicht hat Adorno unterschätzt, trotz seiner sublimen und erst spät eingestandenen Nähe zu Nietzsche, dem er letztlich mehr verdanken wollte als Hegel, dass das Leben vorerst einmal leben will. Ob auch noch richtig, ist vielleicht wirklich zu viel verlangt.

Trotzdem könnte es nicht schaden, wenn die affirmativen Haltungen, mit denen wir in der Regel den Verlockungen unserer schönen neuen Welt lustvoll erliegen, hin und wieder durch einen kritischen Gedanken jener Art gestört würden, für die Adorno einstand wie wenige. Viel ist dazu mitunter gar nicht notwendig, manchmal genügt ein bisschen Zynismus: In seinen Vorlesungen über die "Probleme der Moralphilosophie" aus dem Sommersemester 1963 hat Adorno erzählt, dass ihn die Gründer einer "Humanistischen Union" um seinen Beitritt gebeten hätten und er darauf geantwortet habe: "Ich würde, wenn Ihr Club eine inhumane Union hieße, vielleicht bereit sein einzutreten." Auch wenn man im falschen Leben nur falsch leben kann, sollte man sich in memoriam Theodor W. Adorno hin und wieder den Luxus leisten, das Falsche auch falsch zu nennen. [*]

1953 in Villach geboren. Professor der Philosophie an der Universität Wien. Zahlreiche Bücher, zuletzt "Günther Anders - Philosophieren im Zeitalter der technologischen Revolutionen" (C. H. Beck Verlag, München).